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Channel: Second World War – Erinnerungskulturen
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Den sowjetischen Sieg in der Linse der Kamera – der Fotojournalist Evgenij Chaldej

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Im Hintergrund lassen sich noch ganz leicht die Konturen einer Stadt in einem Meer aus Flammen und Qualm erahnen, vorne stehen skelettartig die Gerüste von ehemals prächtigen Gründerzeithäusern. Der Betrachter blickt von oben auf das Spektakel, vor ihm hisst ein Mann, von einem anderen gehalten, eine Flagge auf der Hammer, Sichel und ein Stern abgebildet sind. Die Flagge identifiziert die abgebildeten Männer als sowjetische Soldaten und auch der Berliner Reichstag war für den zeitgenössischen Betrachter zu erkennen.


Soldaten hissen die Flagge der Sowjetunion, hergestellt aus einer Tischdecke, über dem zerstörten Reichstag; Foto: Yevgeny Khaldei/Getty Images

Dieses Foto werden auch heute die meisten sofort erkennen, wurde es doch zur Ikone der deutschen Niederlage im Zweiten Weltkrieg. Aufgenommen im Mai 1945 zeigt es das Flaggenhissen auf dem Reichstag als Symbol des sowjetischen Sieges. Neben der heroischen Verbreitung in der UdSSR entstanden im Westen viele Skandale um das Bild und machten es zum Instrument des Kalten Krieges. Vor allem die Retusche des Bildes (ursprünglich waren zwei Armbanduhren am Handgelenk des Flaggenhissers zu sehen) und die Inszenierung des Augenblickes ließen die Kritiker aufschreien und die Fotografie für sie zum Symbol eines trügerischen Systems werden.

Chaldejs ikonisches Foto vor dem heutigen Reichstagsgebäude. – Foto: Martin Jacobsen at en.wikipedia [CC BY-SA 3.0]

Evgenij Chaldej, ihr Fotograf, hatte nie ein Geheimnis um die fehlende Authentizität gemacht. Insgesamt 36 Aufnahmen gibt es allein von diesem Ereignis. Das Fahnenhissen an anderen Orten dokumentierte Chaldej ebenfalls. Die Inszenierung historischer Augenblicke war ein wichtiger Bestandteil des sowjetischen Fotojournalismus und der Sieg über das nationalsozialistische Deutschland bedurfte einer aussagekräftigen Ikone.

Bereits in der frühen Sowjetunion galt das Credo, Geschichte solle künftig vor allem mit der Kamera geschrieben werden, denn so werde sie anschaulich und lebendig. Aus diesem Geist ging eine erste Generation genuin sowjetischer Fotojournalisten, geboren schon im neuen System und zumeist jüdischer Abstammung, hervor. Einer ihrer bekanntesten Vertreter war Evgenij Chaldej.

Chaldej wurde 1917 im heutigen Donezk in der Ukraine geboren und erlebte dort bereits in frühester Kindheit antisemitische Gewalt, als seine Mutter und sein Großvater gemeinsam mit weiteren Familienmitgliedern durch Pogrome getötet wurden. Er wuchs in einem bürgerlich-modernen jüdischen Haushalt, allerdings mit sehr religiösen Großeltern, auf und begann mit fünfzehn Jahren als Fotograf zu arbeiten. Über die lokale Presse und seine Arbeit für die Bildagentur Union-Photo gelangte er dann Anfang der 1930er-Jahre schließlich nach Moskau, wo er – im Gegensatz zur ukrainischen Provinz – auch Geld verdienen und Karriere machen konnte. 

In der Hauptstadt wurde zu jener Zeit der Sozialistische Realismus ausgehandelt. Besonders für die Fotografie bedeutete die neue Maxime, den sozialistischen Aufbau zu zeigen, keineswegs eine sozio-dokumentarische Fotografie, wie es z.B. zeitgleich in den USA unter dem New Deal der Fall war. Im Gegenteil, vor allem Fotografie wurde genutzt, um das scheinbare Idealbild des Sozialismus zu zeigen, Helden zu kreieren und die Gesellschaft zu verklären. Während der Stil klar vorgegeben war, konnten die Fotografen noch in eigenem Stil die geforderten Sujets darstellen. In den 1930er Jahren besaßen sie somit noch relativ viele kreative Freiheiten. Chaldejs Fotos wurden regelmäßig in der sowjetischen Presse veröffentlicht und 1937 erhielt er mit einer Auftragsreise nach Jakutien seinen ersten großen fotojournalistischen Auftrag. 

Nicht nur das Ende des Zweiten Weltkrieges fotografierte Chaldej, sondern auch seinen Anfang. Das Bild zeigt allerdings keine Schlacht und keine Soldaten, sondern eine Gruppe Menschen, die reglos auf dem Bordstein einer zum Kreml führenden Moskauer Straße stehen und den Blick nach oben gerichtet haben. Es hat eine verstörende Atmosphäre, da sich das Dargestellte nicht unmittelbar erschließt. Die nach oben gerichteten Köpfe suggerieren ein Ereignis, das jedoch nicht sichtbar ist. Auch die stillstehenden Menschen auf einer der bewegtesten Moskauer Straßen irritieren. Erst der Text verrät, dass es sich hierbei um den Moment handelt, als der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow den Krieg verkündete. Der Betrachter wird so Zeuge eines für die sowjetische Geschichte entscheidenden Momentes.  

Für den Fotojournalismus bedeutete der Krieg eine Umkehr der Prinzipien des Sozialistischen Realismus – nun wurde bestimmt, was fotografiert werden sollte, aber nicht mehr wie. Chaldej wurde – wie die meisten seiner Kollegen – als Korrespondent an die Front versetzt. Sein Weg im Zweiten Weltkrieg führte erst nach Murmansk, wo 1941 eine der größten deutschen Bombenoffensiven stattfand. Im Anschluß wurde er an die Schwarzmeerflotte versetzt, bevor er im letzten Kriegsjahr den Rückeroberungsfeldzug durch die Ukraine, Südosteuropa, Ungarn, Österreich und schließlich Deutschland begleitete. 

Chaldejs Kriegsfotografien sind vielfältig. Er inszenierte außerhalb der Kampfhandlungen Soldatenporträts und betonte dabei die Multiethnizität der Armee, aber auch die Naturräume, in denen die Kampfhandlungen stattfanden. Die Opfer des Krieges zeigte er nicht nur durch Verwundete oder Tote, sondern vielmehr durch Zivilisten, die den Betrachter den Krieg spüren lassen. Etwa durch eine alte Frau, die mit einem Sack auf dem Rücken alleine durch das völlig zerstörte Murmansk geht oder auch durch zwei alte (deutsche) Männer, die auf einer Bank in einer zerbombten Berliner Straße sitzen. 

Mit dem Holocaust kam Evgenij Chaldej erstmalig in Kertsch in Berührung, wo 7.000 erschossene Juden nach der Rückeroberung des Gebietes durch die sowjetische Armee exhumiert wurden. Aus seiner eigenen Familie in Donezk überlebte nur eine rechtzeitig geflohene Schwester. Der Verlust seines Vaters und seiner restlichen Familie durch erneute antisemitische Gewalt traumatisierte ihn schwer und weckte nach eigenen Angaben eine Rückbesinnung auf seine jüdische Identität. Im Gegensatz zur offiziellen sowjetischen Politik, die Opfer als Zivilisten bzw. „friedliche Sowjetbürgerdarzustellen, zeigte er explizit jüdische Opfer und Erinnerungsorte wie das jüdische Ghetto in Budapest. Diese Fotografien wurden zuerst allerdings nur in jiddischen Zeitungen in der Sowjetunion veröffentlicht. Im Gegensatz dazu gingen seine Aufnahmen der Potsdamer Konferenz, in denen er Stalin in seiner weißen Uniform apotheotisch als zentrale Figur des Geschehens inszenierte, um die Welt. 

Nachdem er den Sommer 1945 in Berlin verbrachte, musste Chaldej anschließend abermals an die Front, diesmal in den Fernen Osten, wo die Sowjetunion in der Mandschurei gegen Japan auf dem Vormarsch war. Auch dort gelang es ihm den Sieg fotografisch zu dokumentieren.  Doch bereits kurze Zeit später kehrte er nach Deutschland zurück, um die Nürnberger Prozesse zu dokumentieren. Diesmal waren die Täter im Fokus seines Objektivs. Seine Bilder zeigen Göring und andere nationalsozialistische Größen in Nahaufnahme, aber auch hinter den Kulissen des Prozesses. 

Doch selbst diese prominenten Bilder schützten Chaldej nicht vor der sogenannten antikosmopolitischen Kampagne, die sich gegen sowjetische Juden in gesellschaftlich relevanten Positionen richtete und 1948 zu seiner Kündigung in der Nachrichtenagentur TASS führte. Bereits im Jahr zuvor fiel er einer Parteiuntersuchung zum Opfer, die feststellte, dass er sich in Friedenszeiten nicht weiter entwickelt habe, ihm der Erfolg zu Kopf gestiegen sei und er, als hauptsächliches Problem, eine sehr niedrige „Kulturalisierung“ habe. Von dem Zeitpunkt an konnten seine Fotografien, wenn überhaupt, nur ohne seinen Namen publiziert werden. Erst mit der Tauwetter-Politik unter Chruschtschow und der kulturellen Aufarbeitung des Krieges wurden seine Bilder wieder ausgestellt. Er selbst bekam schließlich in den 1960er-Jahren wieder eine feste Anstellung – diesmal bei der Pravda. 

Seine Fotos aus dieser Epoche spiegeln die Chruschtschow’sche Moderne wieder. Der Fokus lag nun nicht mehr auf dem einzelnen Helden, sondern in den Errungenschaften des Landes, das sich als Weltmacht verstanden sehen wollte. Für die Fotografie bedeutete dies, dass in erster Linie Gruppen fotografiert wurden, der Szenenausschnitt ein größerer war, die Dargestellten meistens anonym blieben und dafür  Konsum und Technik in den Vordergrund rückten. Chaldejs Fotoserie der Leningrader Kaufhäuser aus den späten 1960er Jahren, auf denen die weiten Ablagen des berühmten Kaufhauses Eliseev betont werden, erinnert an die Konsum-Serie von Henri Cartier Bresson. Der französische Fotograf wollte damit verdeutlichen, wie die Lust an Waren Menschen beider konkurrierender Systeme eint. Wie schon im Krieg arbeitete Chaldej auch in dieser Zeit oft damit, die Sowjetunion durch eine Stellvertreterfigur sichtbar zu machen. Prägnante Beispiele finden sich hierfür in seiner 1960 entstandenen Serie über das erste sowjetische Atomschiff „Lenin“. Anstelle das Schiff bildeinnehmend zu zeigen (diese Fotos gibt es sicherlich auch), sehen wir das Schiff gespiegelt in der Brille eines korpulenten lachenden Mannes im Pelz, der auch leichte Ähnlichkeit mit Chruschtschow hat. In einem anderen Bild stehen zwei Männer nur in Unterhose und Socken bekleidet an einem Flußufer im Schnee und reiben sich mit diesem ein. Diese Beobachtung des „Abhärtens“ zieht den Blick des Betrachters so sehr in den Bann, dass das leise im Horizont vorbeifahrende Schiff erst auf den zweiten Blick wahrgenommen wird. Chaldej schaffte es gekonnt, Ereignisse mit Menschen, aber auch dem Zeitgeist zu verknüpfen und somit langlebige visuelle Dokumente zu schaffen.  Vor allem in seinem letzten Lebensjahrzehnt, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, gelangte er zu Ruhm. Westliche Museen widmeten ihm Ausstellungen, meistens nahmen sie dabei die im Krieg entstandenen Aufnahmen zum Ausgangspunkt. Er galt in der westlichen Welt als jüdischer Fotograf und stilisierte sich auch als solcher, während er in der russischen Öffentlichkeit stets seine Identifikation mit der Sowjetunion betonte. 

Seine fotografischen Aufnahmen sind auch jenseits der Kriegsfotografie ein bedeutendes Dokument der Sowjetunion. Begrenzt durch die visuellen Vorgaben des Regimes schaffte er es dennoch eine Ästhetik jenseits der üblichen lachenden Gesichter zu entwickeln und stellte sich stets aufs Neue der Herausforderung, der monotonen sowjetischen Pressefotografie interessante Aspekte einzuhauchen.

Literatur:

  • Die eigenen Bildanalysen ausgenommen, basiert dieser Text vor allem auf dem uneingeschränkt empfehlenswerten Buch „Through Soviet Jewish Eyes“ von David Shneer (Rutgers University Press, 2011) sowie auf der Einleitung des russischen Fotohistorikers Valerij I. Stigneev zu der Künstlermonografie „Evgenij Chaldej, 1917-1997“ (Moskau, 2007).
  • Zur Biografie Evgenij Chaldejs und Beispielen seiner Arbeit vgl. auch den Berliner Ausstellungskatalog „Jewgeni Chaldej: Der bedeutende Augenblick“ hrsg. v. Volland, E. und Krimmer, H., 2008.

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